►
Maya Sitzende
►
Dream of Beauty 5.1
►
Dream of Beauty 4.0
►
Catwalk
Dream of Beauty 3.0
In der Medienkunst der neunziger Jahre erscheint der Körper als Projekt, in dem überlappende Systeme zusammenarbeiten, er begegnet uns in Form selbsterzeugter Identitäten, aufgelöst in Pixel, Information und fragmentierter Selbstbilder.
Kirsten Geisler arbeitet mit virtuellen Kreationen. Sie nutzt die Möglichkeiten der digitalen Technik um künstliche Schönheit zu erschaffen. Sie entwickelt Frauenköpfe, "Virtual Beauties", die sie nach Ergebnissen der Forschung über das menschliche Schönheitsempfinden am Computer entwirft. Obwohl Geislers "Beauties" alle Kriterien des weiblichen Schönheitsideals zu erfüllen scheinen, sorgt die völlige Ausdruckslosigkeit ihrer ebenmässigen Gesichter für nachhaltige Irritation.
Geislers Gegenüberstellung zeigt, dass die stereotype Darstellung der Frau bereits heute ein solches Maß an Künstlichkeit erreicht hat, dass die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt zunehmend unbedeutend werden. Der perfekte Klon konfrontiert uns mit unserem Idealbild, ist aber trotzdem unberechenbar: Die virtuellen "Beauties" äussern sich nur sparsam, zeigen weder Angst noch Gefühle, und ihre Kommunikationsbereitschaft – lachen, zwinkern, sprechen – liegt augenscheinlich ausserhalb unserer Kontrolle. Während wir uns von Fortschritt und Technik die Zukunft erwarten, wirft uns der Klon auf die eigene Menschlichkeit zurück: Wir vermissen Gefühle, Wärme, Körperlichkeit.
Die aktuelle Version 3.0 / 3.1, der Catwalk einer "Ganzkörper-Beauty", stellt den Betrachter auf Grund der Perfektion von Körper und Bewegung vor eine noch schwierigere Einschätzung. Kirsten Geisler hat hier zusammen mit einem Schönheitschirurg ganze Arbeit geleistet: Das Produkt aus der Retorte schwingt seine Hüften in gekonntem Gang dem Betrachter entgegen, der zwischen modisch anmutender Faszination der grazilen Verführung und ablehnender Haltung gegenüber so viel Klischee schwankt.
►
The Kiss
Dream of Beauty 2.4
Interaktive 3D-Computeranimation, Kirsten Geisler, 1998
"The Kiss" ist eine 3D-Computeranimation, die eine virtuelle "Beauty" zeigt, die die Diskrepanz zwischen natürlicher und künstlicher Schönheit aufzeigt. Die standardisierte Emotionalität der Werbeästheitk wird gegen sich selbst ausgespielt. Die konstruierten Ideale weiblicher Schönheit, die die "Beauty" repräsentiert, werden nicht nur als blosse Fassade entlarvt, sondern sie sind die Mauern, die eine tiefer gehende Kommunikation verhindern.
Durch Knopfdruck ist es möglich mit der Frau Kontakt aufzunehmen. Die "Beauty" hat ein eigenes Leben und reagiert auf verschiedene Weise, z. B. dadurch, dass sie einen Kuss gibt oder sich verweigert. Die Reaktion ist nicht im voraus festgelegt, da der Rechner "ad random", also zufällig, eine Sequenz von der Festplatte abruft.
Watching Me - Watching You
DREAM OF BEAUTY 2.3
Interaktive 3D-Computeranimation, Kirsten Geisler, 1998
Die traditionelle bildnerische Präsentation von Menschen schliesst fast immmer die Frage nach der Realität der Dargestellten ein. Durch den Einsatz technischer Medien und ihrer Möglichkeiten erhält diese Diskussion eine neue Dimension.
Genau an dieser Stelle setzt Kirsten Geislers "Watching Me - Watching You" an. Ihre interaktiven Computeranimationen verwischen die Grenze zwischen realer und virtueller Ebene und suggerieren eine neue Realität, von der zweidimensionalen Präsentation zur dreidimensionalen Präsenz. Das traditionelle Porträt wird so zum aktiven Gegenüber. Auf der Höhe der Betrachter hängen drei Bildschirme, die jeweils das Porträt einer Frau zeigen. Es sind "Beauties", nicht real existent, sondern nach dem Schönheitsideal der Verhaltensforschung am Computer als Resultat messbarer Schönheit generiert. Per Knopfdruck kann der Besucher individuell Kontakt aufnehmen. Ob und wie sie reagieren ist jedoch zufällig, wodurch der "reale" Charakter des virtuellen Flirts, scheinbar aufgrund von Sympathie, betont wird.
Es sind menschliche Regungen, wie ein Augenzwinkern oder ein Lachen, die den Besucher belohnen. Aber das Lachen ertönt künstlich und unnatürlich, wodurch sich die Illusion endgültig zerstört. Kirsten Geislers Frauen signalisieren die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nach Kontakt, Anerkennung und Kommunikation, ohne die Versprechen einzuhalten. Das lustvolle Spiel mit zwischenmenschlichen Emotionen scheint (noch) der Realität vorbehalten zu sein.
Alexandra Kolossa
►
Touch Me
DREAM OF BEAUTY 2.2
Der Traum von der idealen Schönheit ist noch nicht erfüllt. Was die Ideale sind, vermag niemand zu beantworten, doch wie er sich heute manifestiert, zeigt Kirsten Geisler mit dieser computeranimierten, interaktiven Projektion. Genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Unterscheidung zwischen einem virtuellen, projizierten Idealbild und der physischen und psychischen Selbstwahrnehmung zuneh-mend ins Unbewusste sinkt, setzt Kirsten Geisler mit ihrer Arbeit einer artifiziell generierten Schönheit ein. Sie greift damit das Ringen, den Kampf des Einzelnen um eine Entsprechung seines eigenen Aussehens und Wesens mit einem fremdbestimmten und ideellen Vorbild auf.
Die Identifikation des Individuums mit seinen zahlreichen virtuellen Stellvertretern geht heutzutage soweit, dass physische Präsenz keine Rolle für die Interaktion spielt und psychische Präsenz dieser Tendenz gänzlich zum Opfer zu fallen droht. Der Kopf der Schönheit ist überdimensional und vermittelt mehr ein proportionales als ein modisches Leitbild, denn kahlgeschoren wie er ist, propagiert er ein aseptisches, steriles Ideal, das mühelos dem Ideal einer perfekten computergenerierten Neuen Welt entspricht. Mit dieser überdimensionalen Darstellung und absoluten Symmetrie greift Kirsten Geisler das ewige Bild des perfekten Gottes auf, einem Vorbild, dem der Mensch nacheifert, indem er die Symbiose zwischen Gott und sich selbst anstrebt. Das göttliche Beispiel und das Gebot der Erfüllung dieses Exempels liegt dem ewigen Streben nach dem Erreichen eines Idealzustands zu Grunde, dessen Perfektion Antrieb und nicht Zweck des Bemühens ist.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich dieses Streben zunehmend auf eine säkulare Ebene verlagert und erfüllt sich heutzutage unter anderem im Schönheitskult und Schlankheitswahn. Die vermeintliche Veräußerung innerer Werte ist jedoch weniger als Verlust zu verstehen als vielmehr in der medialen Wandlung des kommunikativen Systems.
Die zunehmende Dominanz bildhafter und symbolischer Zeichen gegenüber den schriftsprachlichen, ursächlich mit der Entwicklungen neuer Bildmedien und des Computers verbunden, ermöglicht es Kirsten Geisler, auf dieser Ebene die Diskrepanz zwischen ,,natürlichen" und künstlichen Welten zu thematisieren, ihre Unterscheidbarkeit infrage zu stellen. Neben gestischen und mimischen Reaktionen wie dem Lächeln, dem Kuss, dem Öffnen und Schliessen der Augen, der Drehung des Kopfes operiert die Schönheit nun zunehmend auch mit lautsprachlicher Artikulation. Das Gegenüber hat die Möglichkeit, Fragen zu stellen oder eine sprachliche Äusserung zu machen, auf die die Schönheit reagiert.
Hier werden momentan auch die Grenzen des Systems erreicht, und die Unzulänglichkeiten und die Imperfektion des Wesens auf dem Schirm werden deutlich. Dies macht die Schönheit trotz ihrer strahlenden Brillianz so menschlich, schmälert ihre Wirkung jedoch keineswegs, sondern potenziert diese um ein vielfaches. Denn nicht im Anerkennen des idealen Zustands dieses virtuellen Wesens liegt der Sinn dieser Arbeiten, sondern in der Erfahrung der Nähe und Identität von animiertem Bild und ideeller Konzeption, der illusionären Differenz und Distanz zu diesem System bei gleichzeitiger unbewusster, aber konstitutiver Teilhabe an ihm.
►
Counting
DREAM OF BEAUTY 2.1
Interaktive 3D-Computeranimation, Kirsten Geisler, 1999
Eine junge Frau schaut zu den Besuchern und beginnt zu zählen.
Es zeigt sich schnell, dass es nicht das Porträt einer lebenden Person ist, sondern dass es sich um eine virtuelle handelt; statt Fleisch und Blut also bits und bytes. Die Zählende ist selbst ein Produkt der Mathematik. Sie gebraucht ihren eigenen Ursprung als Basis zur Kommunikation mit der Umwelt und reduziert dabei den menschlichen Besucher zur anonymen Zahl. Er verliert einerseits seine namentliche Identität, wird andererseits aber Teil der numerischen Masse. Es stellt sich die Frage, ob Namen und Identitätsnummern nicht doch dasselbe sind, nämlich Bezeichnungen für ein Individuum. Die Anhäufung von Buchstaben wird ersetzt durch eine Zahlenfolge.
Der Konflikt zwischen Person und Gemeinschaft wird in "Counting" gelegentlich, aber strukturell, durch die Zählende entschärft, indem sie "random", also zufällig, zum Schulterschluss aufruft: "1234 connect to 5678". Das Schicksal verbindet Menschen, Partnerwahl per Computer.
In vielen Kulturen gilt die Zahl als der Ursprung aller Dinge; es ist die Harmonie, die der Welt zu Grunde liegt. Zahlen benennen Quantitäten, drücken aber auch eine symbolische Qualität aus. Nicht nur geeignet zur scheinbar objektiven Beschreibung von zeitlichen Abläufen in Minuten, Stunden, Tagen oder zur Begrenzung von räumlichen Abständen in Metern oder Meilen sondern auch als Ausdruck emotioneller Werte. 300 Tote bei einem Flugzeugabsturz rufen mehr Betroffenheit auf als 3 Opfer im täglichen Verkehr. Das "Nahe" wiegt schwerer als das Weitentfernte. Vergangenes verblasst, lang Anhaltendes wird zur Gewohnheit. In beiden Fällen entsteht eine negative Korrelation im Gefühlswert.
Der individuelle Empfindungsfaktor ci ist ein Mass für die Gefühlsstärke, die ein Ereignis bei einem Individuum aufruft. "Counting" ist eine Arbeit über unsere Beziehung zur Zahl, zur Mathematik, zum Universellen, also über uns selbst.
Mit Dank an RMH, Agentur für neue Medien GmbH
►
►
DREAM OF BEAUTY 2.0
Interaktive 3D-Computeranimation, Kirsten Geisler, 1999
Der Traum von der idealen Schönheit ist noch nicht erfüllt. Was die Ideale sind, vermag niemand zu beantworten, doch wie er sich heute manifestiert, zeigt Kirsten Geisler mit dieser computeranimierten, interaktiven Projektion. Genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Unterscheidung zwischen einem virtuellen, projizierten Idealbild und der physischen und psychischen Selbstwahrnehmung zuneh- mend ins Unbewusste sinkt, setzt Kirsten Geisler mit ihrer Arbeit einer artifiziell generierten Schönheit ein. Sie greift damit das Ringen, den Kampf des Einzelnen um eine Entsprechung seines eigenen Aussehens und Wesens mit einem fremdbestimmten und ideellen Vorbild auf.
Die Identifikation des Individuums mit seinen zahlreichen virtuellen Stellvertretern geht heutzutage soweit, dass physische Präsenz keine Rolle für die Interaktion spielt und psychische Präsenz dieser Tendenz gänzlich zum Opfer zu fallen droht. Der Kopf der Schönheit ist überdimensional und vermittelt mehr ein proportionales als ein modisches Leitbild, denn kahlgeschoren wie er ist, propagiert er einaseptisches, steriles Ideal, das mühelos dem Ideal einer perfekten computergenerierten Neuen Welt entspricht. Mit dieser überdimensionalen Darstellung und absoluten Symmetrie greift Kirsten Geisler das ewige Bild des perfekten Gottes auf, einem Vorbild, dem der Mensch nacheifert, indem er dieSymbiose zwischen Gott und sich selbst anstrebt. Das göttliche Beispiel und das Gebot der Erfüllung dieses Exempels liegt dem ewigen Streben nach dem Erreichen eines Idealzustands zu Grunde, dessen Perfektion Antrieb und nicht Zweck des Bemühens ist.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich dieses Streben zunehmend auf eine säkulare Ebene verlagert und erfüllt sich heutzutage unter anderem im Schönheitskult und Schlankheitswahn. Die vermeintliche Veräußerung innerer Werte ist jedoch weniger als Verlust zuverstehen als vielmehr in der medialen Wandlung des kommunikativen Systems.
Die zunehmende Dominanz bildhafter und symbolischer Zeichen gegenüber den schriftsprachlichen, ursächlich mit der Entwicklungen neuer Bildmedien und des Computers verbunden, ermöglicht es Kirsten Geisler, auf dieser Ebene die Diskrepanz zwischen ,,natürlichen" und künstlichen Welten zu thematisieren, ihre Unterscheidbarkeit infrage zu stellen. Neben gestischen und mimischen Reaktionen wie dem Lächeln, dem Kuss, dem Öffnen und Schliessen der Augen, der Drehung des Kopfes operiert die Schönheit nun zunehmend auch mit lautsprachlicher Artikulation. Das Gegenüber hat die Möglichkeit, Fragen zu stellen oder eine sprachliche Äusserung zu machen, auf die die Schönheit reagiert.
Hier werden momentan auch die Grenzen des Systems erreicht, und die Unzulänglichkeiten und die Imperfektion des Wesens auf dem Schirm werden deutlich. Dies macht die Schönheit trotz ihrer strahlenden Brillianz so menschlich, schmälert ihre Wirkung jedoch keineswegs, sondern potenziert diese um ein vielfaches. Denn nicht im Anerkennen des idealen Zustands dieses virtuellen Wesens liegt der Sinn dieser Arbeiten, sondern in der Erfahrung der Nähe und Identität von animiertem Bild und ideeller Konzeption, der illusionären Differenz und Distanz zu diesem System bei gleichzeitigerunbewusster, aber konstitutiver Teilhabe an ihm.
Markus Mascher, Kunsthalle Düsseldorf
►
►
DREAM OF BEAUTY 1.2
►
►
The Beauties
DREAM OF BEAUTY 1.1
Interaktive 3D-Computeranimation, Kirsten Geisler, 1997
Das Bild der Schönen unserer Tage wird durch die Medien geprägt. Fernsehen, Zeitungen und Magazine geben uns ein Ideal vor. So flimmern sie allabendlich zu hunderten über den Bildschirm, wer dennoch Langeweileverspürt, kann sie zum Greifen nah je nach Wunsch schwarz auf weiß oder farbig bestaunen. Erotische Ausstrahlung ist angesagt, Verführung ist gewollt. Dabei spielen besonders die Augen und der Mund eine Schlüsselrolle.
In der Installation "The Beauty" werden auf fünf LCD-Monitoren neben den im Computer generierten Elementen Augen und Mund auch das Gesicht in seiner Totalität gezeigt. Dem Betrachter wird somit die Möglichkeit gegeben, nicht nur die Einzelteile auf sich wirkenzu lassen, sondern auch direkten Kontakt, sozusagen „en face”, zu bekommen. Dieser beschränkt sich allerdings auf die egozentrische Mitteilung der Schönen: "I’m a Beauty, I’m a Virtual". Wie die moderne Frau zeigt auch die Virtuelle Profil: Ihre Ausstrahlung ist eine Kombination von spröder Schönheit und Selbstsicherheit.
Die fünf Teile (Mund, rechtes Auge, linkes Auge, Profil, Porträt) können einzeln oder in Serie gezeigt werden.
►
DREAM OF BEAUTY 1.0
Interaktive 3D-Computeranimation, Kirsten Geisler, 1997
Die magische Kraft ihres unverwandt auf uns gerichteten Blickes zieht uns in den Bann. Überlebensgross - wirklich und unwirklich zugleich - blickt sie uns an, Kirsten Geislers "Beauty". Sie ist der Inbegriff einer standardisierten Schönheit. Doch obwohl sie alle Kriterien des weiblichen Schönheitsideals zu erfüllen scheint, sorgt die absolute Ausdruckslosigkeit ihres ebenmässigen Gesichtes für nachhaltige Irritation. Eigentlich hätte man ihr kein Eigenleben zugetraut, da beginnt sie langsam zu sprechen: "I am a Beauty - I am a Virtual".
Ein Mikrofon, das vor dem grossformatigen Videoporträt installiert ist, gibt den Besuchern die Möglichkeit, den unsichtbaren Bann zu brechen und mit der Schönheit ins Gespräch zu kommen. Fragen und Dialogangebote seitens der Besucher werden mit einem gnädigen Nicken, mit Kopfschütteln oder mit "I don't like it" beantwortet. Die überraschendsten Momente sind die, wenn die Schöne plötzlich komplizenhaft mit den Augen zwinkert oder wenn sie für einen kurzen Moment lächelt.
Spätestens dann wird die enorme Diskrepanz zwischen natürlicher Schönheit und künstlicher Schönheit klar. In "Dream of Beauty" spielt Kirsten Geisler die standardisierte Emotionalität der Werbeästhetik geschickt gegen sich selbst aus. Die konstruierten Ideale weiblicher Schönheit, die Geislers "Beauty" repräsentiert, werden nicht nur als blosse Fassade entlarvt, sondern sie sind die Mauern, die eine tiefer gehende Kommunikation verhindern.
Geisler zeigt, dass - egal, ob in traditionellen Medien oder im Bereich der digitalen Medien - die stereotype Darstellung der Frau heute bereits ein solches Mass an Künstlichkeit erreicht hat, dass die Grenzen zwischen realer Welt und virtueller Welt zunehmend unbedeutend werden. In dieser Grenzauflösung liegt gleichzeitig eine enorme ästhetische Chance, denn die wachsende Bedeutung des Virtuellen könnte dafür sorgen, dass in unserem rational bestimmten Alltag die Vorstellungswelt und die Welt der Imagination wieder einen grösseren Stellenwert bekommen.
Das der kreative Gestaltungsspielraum hier sehr gross ist, zeigt das Ersatzteillager menschlicher Organe, das auf sechs kleinen Displays im Installationsraum angeordnet ist: Augen, Nase, Mund und unterschiedliche Ansichten des Gesichts verweisen auf die zukünftige Möglichkeit, sich immer neue Gesichter zu formen. Diese neue Freiheit in der Konstruktion wechselnder Identitäten hat freilich nicht nur positive, sondern auch negative Implikationen, die heute angesichts immer avancierterer Möglichkeiten der Gentechnologie noch bei weitem nicht absehbar sind.
Entgegen jeder Überschätzung und Mystifizierung der technischen Möglichkeiten macht Kirsten Geisler mit ihrer neuesten Arbeit unmissverständlich klar, dass der heutige Stand der Technologie noch unvollkommen ist. Ihre "virtuelle Schönheit" ist in ihrem jetzigen Entwicklungsstadium weder der perfekte digitale Klon noch der gleichberechtigte menschliche Gesprächspartner. Sie ist eher die Naive, Kindliche, die noch lernfähig ist. In den weiteren Phasen ihrer Entwicklung, die für das nächste Jahr geplant sind, wird sie allerdings immer mehr dazu lernen und ihre kommunikativen Fähigkeiten immer weiter ausbauen. Ob aus ihr je eine gefühlvolle Schönheit wird, hängt vor allem davon ab, ob wir bereit sein werden, ihr soziale und kommunikative Kompetenzen zuzugestehen.
Dr. Soeke Dinkla, Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg
►
ROSE-PETAL
►
ROSE-PETALS
►
►
Virtuarium: die Fliege
Interaktive 3D-Computerinstallation, Kirsten Geisler, 2000
Die Götter sind schon von Nietzsche für tot erklärt worden, für Baudrillard ist auch die Realität gestorben. Der Mensch sonnt sich heute in der Allmacht biologischer, technischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse, die ihn zum uneingeschränkten Herrscher, ja Schöpfer machen. Bisher konnte man dem Natürlichen zumindest in Bezug auf die optische Erscheinung dank plastischer Chirurgie, Kosmetik und allerlei medizinischer Apparaturen und Tinkturen begrenzt neue kreative Freiheiten abtrotzen. Was die Natur jedoch prinzipiell nicht vorsah, ist jetzt dank der Technik der Bio-Ingenieure auch künstlich machbar. In den Werken "Who are you", "Dream of Beauty" und "Touch me" werden die künstlichen Wesen aus der hybriden Folterkammer der menschlichen Selbstüberschätzung zur Disposition gestellt, um im Spiel mit der virtuellen Künstlichkeit auf die realen Gefahren hinzuweisen.
Da der Mensch seit frühen Zeiten seinen Lebensraum mit der Fliege teilte, gesellt sie sich auch im Virtuarium zum Homo virtualis und teilt mit ihm die Vorzüge des virtuellen Lebensraumes. Das monumentale Insekt, dieses digitale Artefakt, das sich putzt, die Beine leckt, brummend zum Flug ansetzt, manifestiert sich wie die in der Natur zu beobachtenden Tiere, indem es reagiert und in einem gewissen Freiheitsgrad sein Verhalten variiert. Die asexuelle Vermehrung der Fliege führt zu identischen Klonen ohne individuelle Merkmale. Es scheint unmöglich, ihr Verhalten von dem der Projektion zu unterscheiden.
Sollte es eines Tages gelingen, Leben allgemein und das menschliche im besonderen, in die digitalen Prototypen so zu verpflanzen, dass sie uns ununterscheidbar als bewusst, vielleicht sogar beseelt erscheinen, so kennt man die Antwort auf die Existenz-Frage: was ist Natur, was ist der Mensch?
Barbara Könches, ZKM Karlsruhe
►
►
Table Of Memories
►
►
As Blue Gets Energy
►
Steps
►
Change